Mehr als 300.000 Anträge auf Erwerbsminderungsrente werden jedes Jahr gestellt. Sie kann eine letzte finanzielle Rettung sein. Vor ihrer Bewilligung liegt jedoch oft ein langer Leidensweg.
Es gibt eine Rente, auf die man gut und gerne verzichtet. Und doch kann sie die finanzielle Rettung sein. Schon ihr Name ist ein Ungetüm: Erwerbsminderungsrente. Und so wie sie heißt, funktioniert sie in der Praxis: ausgesprochen kompliziert. Dabei ist der Grundgedanke so einfach wie sozial.
Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten und mindestens fünf Jahre Rentenversicherungszeit vorweisen kann, kann Erwerbsminderungsrente beantragen. Doch Achtung: Allein der Gedanke „Ich kann nicht mehr“ genügt – erwartbar – nicht, um sie zu erhalten. In Betracht kommt die Erwerbsminderungsrente zum Beispiel bei schwerer chronischer Erkrankung, in der Folge eines Unfalls, im Fall erheblicher körperlicher Einschränkung oder psychischer Erkrankung. Es kann also jeden treffen. In jedem Alter.
Wichtig: Erwerbsminderung ist nicht dasselbe wie Berufsunfähigkeit. Wer seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann, muss nicht zwangsläufig erwerbsgemindert sein. Das ist man nur, wenn man gar keiner Arbeit mehr nachgehen kann. Oder nur sehr eingeschränkt. Der Reihe nach:
Erwerbsminderungsrente – ein langer Leidensweg
Als Erstes braucht es medizinische Nachweise und Begutachtung. Dabei wird geklärt, wie viel Arbeit möglich ist. Oder wie wenig. „Voll erwerbsgemindert“ ist man, wenn man nur noch weniger als drei Stunden täglich arbeiten kann. Wer nur bis maximal sechs Stunden pro Tag arbeiten kann, ist „teilerwerbsgemindert“ und erhält in der Regel eine halbe Rente. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Arbeitsmarkt eine zumutbare Teilzeitbeschäftigung hergibt oder nicht. Es zählt allein der medizinische Befund.
Eine Erwerbsminderung muss ärztlich bescheinigt werden und der Überprüfung durch den ärztlichen Dienst der Deutschen Rentenversicherung standhalten. Und fallweise weiteren Gutachten. Auch die Einschätzung von Krankenkassen wird eingeholt. Dabei gilt der Grundsatz „Reha vor Rente“. Als Erstes wird daher geprüft, welche medizinischen und/oder beruflichen Reha-Maßnahmen die Erwerbsfähigkeit wiederherstellen können. Die müssen Versicherte dann auch durchlaufen, zum Beispiel auch berufliche Umschulungen.
Erst, wenn solche Maßnahmen nachweislich nicht fruchten, wird geprüft, wie hoch das Leistungsvermögen im Hinblick auf Arbeit noch ist. Und zwar bezüglich jeder zumutbaren Tätigkeit.
Man ahnt: Hinter dem Antrag auf Erwerbsminderungsrente steckt oft eine jahrelange Leidensgeschichte. Medizinisch, mental – und auch bürokratisch. Solange Aussicht auf Verbesserung der Gesundheit besteht, wird die Rente in der Regel befristet für drei Jahre gewährt. Eine Verlängerung ist möglich, auch neu befristet. Bessert sich die Gesundheit, kann die Rente entzogen werden. Eine sogenannte „Dauerrente“ wird nur bewilligt, wenn „unwahrscheinlich ist, dass (…) Erwerbsminderung behoben werden kann“, heißt es in der Broschüre der Deutschen Rentenversicherung.
Wie hoch eine Erwerbsminderungsrente ausfällt, wird individuell berechnet. Im Durchschnitt über alle Auszahlungen lag sie zuletzt bei rund 1000 Euro monatlich. Wer überdurchschnittlich gut verdient hat und sehr lange rentenversichert war, kann bei voller Erwerbsunfähigkeit an die 2000 Euro erhalten. Verrechnet werden generell Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Hinzuverdienst ist hingegen ausdrücklich erlaubt. Bei Teilerwerbsminderung sind bis zu 39.322,50 Euro möglich, bei voller Minderung 19.661,25 Euro. Möglich ist auch der probeweise Wiedereinstieg in die Arbeit.
Veränderungen geplant
Mehr als 300.000 Anträge auf Erwerbsminderungsrente werden jedes Jahr gestellt. Bewilligt werden etwa die Hälfte. Insgesamt beziehen derzeit rund 1,7 Millionen Bürgerinnen und Bürger eine Erwerbsminderungsrente. Bei mehr als 40 Prozent der Bezieher lagen laut Rentenversicherung psychische Erkrankungen vor. Dieser Anteil hat sich binnen 20 Jahren nahezu verdoppelt.
Dass der Sozialstaat schwer erkrankte Arbeitnehmer finanziell stützt, notfalls mit einer Rente, ist sicher eine Errungenschaft. Wie genau, ist in der Sozialpolitik schon allein aufgrund der stetig gestiegenen Kosten durchaus umstritten.
Der Koalitionsvertrag von Union und SPD sieht eine Beschleunigung der Feststellung der Erwerbsfähigkeit vor. Das könnte Antragstellern helfen, sich schneller Klarheit zu verschaffen. Weiter heißt es: „Wir stärken den Grundsatz ‚Prävention vor Reha vor Rente‘. Wir setzen den Ü45-Check flächendeckend um. Wir wollen mit Reha-Leistungen diejenigen zielgenauer erreichen, die bereits in einer befristeten Erwerbsminderungsrente sind.“
Dieser Teil der Koalitionsvereinbarung dürfte eher auf Kostendämpfung zielen, der Erwerbsminderung vorbeugen. Der Ü45-Check findet sich online hier.
Wie genau sich die neuen politischen Verabredungen auf Betroffene auswirken, wird sich erst nach Gesetzes- und Verfahrensänderungen zeigen. Sicher ist: Die Erwerbsminderungsrente bleibt eine Einkunftsart, die man sich lieber nicht wünscht.