Meinung: Warum Muslime Antisemitismus bekämpfen sollten

Antisemitismus ist ein Prüfstein unserer Gesellschaft und damit auch für Muslime, meint unser Gastautor. Muslime müssten mehr tun, als sich davon zu distanzieren.

Seit dem brutalen Angriff der Hamas auf Israel und dem nachfolgenden, zwei Jahre währenden Krieg im Gazastreifen hat sich auch hier in Deutschland etwas verschoben. In Gesprächen, in sozialen Medien, selbst in vertrauten Runden spüre ich eine neue Härte – nicht nur zwischen politischen Lagern, sondern auch zwischen Juden und Muslimen. Worte, die früher abgewogen waren, fallen heute leichtfertig. Sätze, die einst Grenzen kannten, überschreiten sie nun.

Ich höre von beiden Seiten Töne, die nicht mäßigend, nicht verhältnismäßig, oft nicht einmal menschlich sind. Die Radikalisierung vollzieht sich nicht auf der Straße, sondern in Köpfen und Herzen – leise, aber spürbar. Und sie vergiftet das, was einst Gespräch war.

Am meisten schmerzt es mich, wenn Muslime – Menschen, die denselben ethischen und spirituellen Anspruch teilen – angesichts der unverhältnismäßigen Gewalt Israels, die zehntausende zivile Opfer gefordert und unermessliches Leid über Gaza gebracht hat, beginnen, das persönliche Leid in kollektive Schuld umzuwandeln – so, als trügen „die Juden“ Verantwortung für das Handeln einer Regierung. Gewiss, es sind wenige. Doch auch wenige genügen, um großen Schaden anzurichten. Aus Schmerz erwächst Bitterkeit, aus Bitterkeit Feindseligkeit – und aus ihr nicht selten Antisemitismus..

Antisemitismus ist auch für Muslime ein Prüfstein

Antisemitismus ist kein fernes Problem. Er ist ein Prüfstein unserer Gesellschaft – und meiner Überzeugung nach auch ein Prüfstein für Muslime. Wenn Synagogen bedroht werden, wenn jüdische Mitbürger Angst haben müssen, dann geht es nicht nur um sie. Es geht um uns alle – um die Frage, wie ernst wir es mit unseren eigenen Werten meinen, und darum, wie wir Verantwortung füreinander begreifen. Wer wegschaut, signalisiert nicht nur Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, sondern gegenüber Recht, Würde und Moral. Und untergräbt damit den Kern dessen, was Glauben ausmacht.

Als Muslim betrifft mich das unmittelbar. Mein Glaube lehrt, dass Respekt vor anderen Menschen und ihren Glaubensräumen keine höfliche Geste ist, sondern Pflicht. „Es gibt keinen Zwang im Glauben“, heißt es im Koran – und dieser Satz gilt nicht nur nach innen, sondern auch nach außen. Ich kann nicht Toleranz einfordern, wenn ich sie anderen verweigere. Religion verliert ihren Sinn, wenn sie nicht zum moralischen Kompass wird. Für mich bedeutet sie nicht nur Rituale oder Identität, sondern konkrete Verantwortung: die Pflicht, das Richtige zu tun, gerade wenn es unbequem ist. Wer in dieser Pflicht versagt, schwächt das Fundament der Gesellschaft, die uns allen Sicherheit bietet.

Der Koran macht die Grundlage dafür klar: Gott will nicht, dass Klöster, Kirchen, Synagogen oder Moscheen zerstört werden (22:41). Dieser Vers ist keine historische Fußnote, sondern ein Prinzip. Er enthält eine politische und ethische Botschaft: dass der Schutz der Anderen Teil des eigenen Glaubens ist. Der Islam kennt keine Einbahnstraße der Solidarität. Wer sich dem Auftrag verweigert, religiöse Vielfalt zu schützen, verrät nicht nur andere, sondern den Sinn des eigenen Glaubens.

Die islamische Geschichte liefert Beispiele, die diese Haltung bestätigen. In Medina schloss der Prophet Mohammed einen Gesellschaftsvertrag, der Muslime, Juden und Christen als gleichberechtigte Gemeinschaft definierte – eine frühe Verfassung auf der Basis gegenseitigen interreligiösen Respekts. Kalif Umar verbot selbst in Kriegszeiten die Zerstörung von Gotteshäusern. Diese Haltung war kein Zufall, sondern Ausdruck eines tiefen Verständnisses von Gerechtigkeit. Der Schutz anderer Glaubensgemeinschaften war nicht Großzügigkeit, sondern Rechtsprinzip.

Glauben ohne Respekt verliert seine Substanz

Diese historische Erinnerung ist heute wichtiger denn je. Denn was im frühen Islam selbstverständlich war, ist in Teilen der Gegenwart verloren gegangen: das Bewusstsein, dass Glauben ohne Respekt seine Substanz verliert. Wenn Muslime Antisemitismus in den eigenen Reihen relativieren oder schweigend hinnehmen, dann beschädigen sie die Glaubwürdigkeit ihres eigenen Bekenntnisses. Schweigen ist keine Option.

Antisemitismus ist kein Problem „der anderen“, sondern eine Herausforderung an unser eigenes moralisches Koordinatensystem. Deshalb müssen Muslime heute mehr tun, als sich davon zu distanzieren. Es reicht nicht, Antisemitismus zu verurteilen – man muss ihm entgegentreten. Synagogenbesuche, gemeinsame Friedensgebete, Bildungsarbeit in Moscheegemeinden – all das sind Schritte, die mehr bewirken als bloße Erklärungen.

Verantwortung entsteht nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Haltung. Der Test für Glaubwürdigkeit zeigt sich genau dann, wenn es unbequem wird, wenn Widerstand droht oder Gefahr spürbar ist. Wer in diesen Momenten handelt, demonstriert Integrität und die Kraft des eigenen Gewissens.

Antisemitismus ist kein isoliertes Phänomen, sondern Teil einer größeren Erosion von Respekt und Rechtsstaatlichkeit. Islamfeindlichkeit und Judenhass sind zwei Seiten derselben gesellschaftlichen Bedrohung. Beide leben vom gleichen Nährboden – vom Misstrauen, von der Angst vor Vielfalt, vom Bedürfnis, Komplexität in Feindbilder zu verwandeln. Wer Hass gegen Juden hinnimmt, öffnet auch der Islamophobie Tür und Tor. Wer Muslime dämonisiert, bereitet das Klima, in dem auch antisemitische Mythen gedeihen. Es ist derselbe Mechanismus, nur mit vertauschten Rollen.

Darum ist der Kampf gegen Antisemitismus nicht bloß Solidarität mit einer anderen Minderheit, sondern Selbstschutz und Prinzipientreue zugleich. Er ist Ausdruck dessen, was der Koran als Adl – als Gerechtigkeit – bezeichnet: eine Haltung, die auch dann aufrecht bleibt, wenn sie uns nichts nützt. Denn eine Gesellschaft, in der Juden in Angst leben, ist auch für Muslime keine Heimat.

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